Bedingungslosigkeit kann man von Kindern lernen. Sie brauchen wenig, um glücklich zu sein. Dazu gehört die Gegenwartsbezogenheit, ein Leben im Hier und Jetzt und nicht in einer fernen, verschwommenen Zukunft. Kinder möchten Geborgenheit, Annahme und Liebe. Kinder wollen keine Beziehungen, die an Erwartungen geknüpft sind. Bedingungslose Annahme und Liebe leben aus sich selbst heraus. Man kann Bedingungslosigkeit mit dem Duft einer Blume vergleichen.
Die stille Kraft, die in Kindern innewohnt
Viele Blumen – egal ob Rose, Lilie oder Hyazinthe – haben die Eigenschaft, Duft auszuströmen. Und sie verbreiten diesen Duft für alle Menschen. Sie verbreiten ihren Duft nicht mit Bedingungen wie: “Kommt näher, dann dufte ich!” oder “Seid brav, dann riecht er mich!”. Sie duften aus sich selbst heraus, weil ihnen eine Kraft innewohnt. Das Bild der Duft ausströmenden Blume lässt sich auch auf den Menschen übertragen. Die spirituelle Dimension ist eine sorgende Kraft im eigenen Inneren, aus der eine Verbundenheit mit dem eigenen Selbst und der Mitwelt resultiert.
Ein indianischer Spruch fasst diese Idee treffend zusammen:
“Großer Geist, in den Vögeln, im Himmel, im Meer, du bist in mir und in allen Dingen um mich herum.”
Dieser Gedanke erinnert uns daran, dass auch in uns die Kraft liegt, bedingungslos zu lieben und zu geben. Erziehung kann diese Kraft fördern und damit ein Fundament für erfüllte Beziehungen schaffen.
Staunen: Die Gabe, die Welt mit Kinderaugen zu sehen
Rabindranath Tagore, der bekannte indische Dichter und Philosoph, sagte einmal:
“Dass ich bin, erfüllt mich mit immer neuem Staunen. Und dies bedeutet Leben.”
Kinder staunen über die großen und kleinen Dinge, die sie umgeben und die sie erfahren. Das Staunen der Kinder geht einher mit ihrer Neugierde, Kinder schauen hinter die Dinge, die Oberfläche ist ihnen zu abstrakt, zu glatt, zu langweilig. Kinder staunen über die Natur, die sie umgibt: Sie reden mit Blättern, sie fühlen sich in Tiere hinein, beseelen Bäume und Pflanzen, Vögel und Käfer mit ihrer Fantasie. Wachstum, Erfüllung, Staunen – in diesen Begriffen zeigen sich spirituelle Erfahrungen, die von innen kommen, in denen imaginäre Kräfte und magische Energien enthalten sind. Solche Erfahrungen können nicht einfach gelehrt oder vermittelt werden. Aber wenn sie eintreten, tun sie dem Menschen gut.
Wachsen: Ein lebenslanger Prozess
“Der Mensch”, so hat es Tagore ausgedrückt, “ist ein geborenes Kind, seine höchste Gabe ist die des Wachsens”. Tagore hat hier Begriffe angedeutet, auf denen erfülltes Leben weiter gründet: Wachstum, Erfüllung, Staunen. Und es sind Kinder, die solche Eigenschaften noch haben. Kinder wachsen, sie durchlaufen verschiedene Entwicklungsetappen – Säugling, Kleinkind, Schulkind, Jugendlicher. Wachstum ist keine stete Vorwärtsentwicklung. Es gibt keine Reise, ohne die Mühen der Ebene zu erleben. Reisen hat mit Abschiednehmen und Ankommen zu tun, mit einer Vielfalt von Gefühlen, mit Momenten des Glücks und der Euphorie, mit absoluter Traurigkeit und völliger Verzweiflung.
Kinder sind selten abstrakt, sie sind anschaulich und konkret, sie reden nicht daher, sie drücken sich einfach aus. Ihr Körper ist beteiligt, manchmal drücken sie sich sogar nur über ihren Körper aus. Kinder wollen Bewegung, sie möchten in Bewegung bleiben – innerlich wie äußerlich, also körperlich. Kinder lieben Wege, weil sie dabei die Grenzen des Körper ausprobieren können und spüren und erfahren wollen, wie weit sie gehen oder was sie aushalten können.
Was Erwachsene von Kindern lernen können
Dann gibt es aber noch die geheimnisvollen Wege nach innen, in das Reich der Fantasie und der Magie, jenes Land, zu dem nur das Kind einen Schlüssel hat und zu dem man als Erwachsener nur selten Zutritt bekommt. Umso wunderbarer kann es sein, wenn Kinder von sich und ihren Bildern erzählen, wenn sie von ihren Vorstellungen von Gott und der Welt berichten. Dann wollen sie keine Belehrungen, keine klugen Kommentare, dann möchten sie, dass Erwachsene zuhören, staunen über die kleinen Philosophen, die sich ihre ganz eigenen Gedanken machen – darüber, woher man kommt; darüber, wohin man geht.
Kinder sind keine leeren Gefäße, die Erwachsene mit ihrem Wissen füllen müssen. Kinder sind ein Füllhorn eigener, einzigartiger Erfahrungen.
Kinder lehren uns Bedingungslosigkeit, Staunen und Wachsen – drei wesentliche Eigenschaften, die unser Leben bereichern. Es liegt an uns, diese Lektionen in unser eigenes Leben zu integrieren und damit ein Vorbild für kommende Generationen zu sein.