Autorin: Petra Sonntag
Publikation: Hamburger Abendblatt
‘”Wann meine Praxis geschlossen ist, erkennen die Menschen auf der Straße an meinem Gesichtsausdruck”, sagt Jan-Uwe Rogge auf seine feinsinnige Art. Ein Lächeln umspielt dabei seine Lippen. Der Familienberater und Erfolgsautor lebt seit fast 30 Jahren im Bargteheider Komponistenviertel. Seit 1985 ist die Praxis in seinem Reihenhaus Anlaufstelle für Rat suchende Eltern und Familien. Dank Rogges Entscheidung, der Wissenschaft den Rücken zu kehren. “Ich wollte freier sein”, sagt er. Raus aus dem Forschungsbetrieb zu Kindheit und Familie an der Universität Tübingen. Schluss mit dem Kinderfernsehen beim Süddeutschen Rundfunk.
In seiner Freizeit behelligten ihn die Menschen in der Regel nicht. “Wer doch auf mich zukommt, will sich meistens bedanken für meine Bücher, die ihm geholfen haben”, sagt der 63-Jährige. Dass er heute eine international bekannte Persönlichkeit in Erziehungsfragen ist und nicht nur auf Bargteheides Straßen angesprochen wird, verdankt er vor allem seinem Bestseller “Kinder brauchen Grenzen”.
Seine Botschaft, dass Kinder ohne Grenzen überfordert sind, sich selbstverantwortlich in der Welt zurechtzufinden, ist in 18 Sprachen übersetzt worden. “Das Buch ist mehr als anderthalb Millionen Mal verkauft worden”, sagt Rogge, die Nachfrage sei ungebrochen. Viele Eltern, die heute eine Neuauflage des Klassikers kaufen, sind von Eltern erzogen worden, die sich auch schon Rat von Rogge holten. Hat sich Grundlegendes in den vergangenen 30 Jahren bei der Erziehung verändert? “Nein”, sagt Rogge, “aber die Themen haben sich verändert: Denken Sie an das Internet, den Konsum, das Handy oder die Selbstvermarktung von Kindern.” Das stelle Eltern vor große Herausforderungen, sagt der Pädagoge. Deshalb herrsche bei Eltern eine größere Verunsicherung als vor 20 oder 25 Jahren. “Das wirft Fragen auf – und ein Bedürfnis nach Antworten von jemandem, der kompetent ist.”
Seine Kompetenz stellt er nicht nur mit bislang 23 veröffentlichten Büchern unter Beweis, zu Themen wie Pubertät, Wut oder Angst bei Kindern. Sondern auch bei seinen gut besuchten Vorträgen, die er von Hamburg bis Hongkong überall hält. Rund 150 Mal im Jahr, im Schnitt mit 200 Besuchern. Das macht rund 30 000 Menschen, denen er im Laufe der Jahre die Augen geöffnet hat, was den Umgang mit dem Nachwuchs angeht. Er sei sich seines Einflusses und der damit einhergehenden Verantwortung bewusst, sagt Jan-Uwe Rogge. Deshalb mache er sich auch im Fernsehen rar. Rogge: “Ich gehe nur in Sendungen, die ich ernst nehme.” TV-Formaten wie “Die Super-Nanny” kann der studierte Germanist, Theaterwissenschaftler und Philosoph nichts abgewinnen. “Das ist absolut unseriös, Eltern und Kinder werden vorgeführt. Die Fälle sind nichts für die Beratung, sondern für eine Einzeltherapie.” Generell habe er nichts gegen Beratungssendungen, in Österreich führt er selbst regelmäßig durch eine Rundfunksendung. Wie schöpft Jan-Uwe Rogge bei seinem umtriebigen Arbeitsalltag Kraft? “Ich lese gern und gönne mir Pausen.” Er strahlt Ruhe aus, doch sein Ritual verrät einen gewissen Drang nach Bewegung. “Ich gehe jeden Tag eine Stunde spazieren.” Und er entspannt beim Kochen, wenn er zwischen zwei Vorträgen zu Hause ist. Wenn er mit seiner Frau Regine, die ihn seit 1996 als Familienberaterin in der Praxis unterstützt, danach im Café sitzt und sieht, wie zwei Mütter mit ihren Kindern Platz nehmen, bleiben die beiden sitzen. “Dann denke ich, jetzt gibt es eine gute Geschichte und meine Frau flüstert mir leise zu: Da wird wieder versucht, zu erziehen.”
Er bewahre sich eine humorvolle Distanz zu anderen Eltern, sagt er. Und hat diese auch zum eigenen Erziehungsverhalten. Sein Sohn, der aus der ersten Ehe seiner Frau stammt, ist lange ausgezogen, aber glatt lief auch im Hause Rogge nicht alles, als er noch zu Hause wohnte. “Auch ich bin Vater, und ein Vater darf Fehler machen”, sagt er rückblickend. Klar habe ihnen der heute 40 Jahre alte Filius in der Pubertät einiges zugemutet, aber: “Umwege erweitern die Ortskenntnis”.
Einer der häufigsten Erziehungsfehler sei es, dass Eltern ihr Kind nicht so annehmen würden, wie es ist, sondern es ständig vergleichen. “Dabei hat schon Pestalozzi gesagt: Vergleiche ein Kind nie mit dem anderen, es sei denn, mit sich selbst”, so Rogge. “Und Eltern müssen sich auch entschuldigen können. Die Fehler, die man als Vater oder Mutter macht, muss man auch wiedergutmachen können.” Gilt es, grundsätzlich etwas an der Auffassung von Eltern zu verändern? “Wir müssen Kindern wieder mehr zumuten”, sagt Rogge und erinnert an ein altes Kinderlied: “Hänschen geht allein – die Kinder von heute werden nur noch gefahren. Wir trauen ihnen zu wenig Eigenständigkeit zu.”
Eltern hätten heute die Tendenz, alles planen zu wollen. “Dabei lässt sich in der Erziehung nicht alles planen. Man weiß nicht, was rauskommt.” Auch Jan-Uwe Rogge nicht. Aber genau dieses Unvermögen nimmt er mit Humor. Seine Vorträge sind auch wegen seiner humorvollen Art beliebt. “Ernste Themen lassen sich mit Humor besser vermitteln”, sagt Rogge. Das habe er schon von seinen Professoren im Studium gelernt. “Lachen erschüttert bis ins Innere. Und wenn ich erschüttert bin, gibt es Raum für Neues.”
In Deutschland werde das Thema Erziehung “bierernst” betrachtet, das sei schrecklich. In die Ferne zieht es Rogge trotzdem nicht. “Stormarn ist schön. Zum Urlauben fahre ich auch gern an die Ostsee.” Gerade arbeitet er mit dem Benediktinerpater Anselm Grün an einem neuen Buch: Spiritualität in der Erziehung. Entdeckt Rogge im Alter das Geistige für sich? “Das war schon immer da, aber es ist in den vergangenen Jahren stärker geworden.” Außerdem schreibt er an seinem fünften Kinderbuch und an einem Buch, das Kinder und Eltern stärken soll. Solange er gesund sei und Spaß daran habe, arbeite er weiter, sagt Rogge und verweist auf seinen Doktorvater: “Der ist mit 83 Jahren noch putzmunter.”