Kinder machen – zwischen dem Säuglingsalter und dem Schulbeginn – in moralisch-sozialer Hinsicht enorme Entwicklungsschübe durch, die viel von ihnen, aber auch manches von den Eltern abverlangen.
Von Kindern im ersten Lebensjahr kann man kaum bewusstes soziales Verhalten, schon gar nicht Mitgefühl mit anderen erwarten. Die Säuglinge sind auf sich bezogen und auf sich fixiert – und das ist gut so. Sozialität muss in dieser Zeit von den Erwachsenen, also von Vater und Mutter sowie anderen Bezugspersonen vorgelebt werden. Wenn das Kind geachtet und respektiert wird, wenn Eltern sensibel auf die Bedürfnisse des Kindes reagieren, wenn sie dem Kind Bindung geben, ihm das Gefühl vermitteln, dass es so angenommen wird, wie es ist, wird ein solides soziales Fundament gelegt. Und wenn Kinder ausreichend Körperkontakt und Sensibilität erfahren und spüren, dann sind erste wichtige Basisschritte in Richtung auf eine moralisch-soziale Entwicklung des Kindes gemacht.
Untersuchungen zeigen, dass fehlender Halt, fehlende Geborgenheit, dass unsensibles erzieherisches Handeln beim Kind das Gefühl hervorrufen, abgelehnt, nicht gemocht zu werden. Damit können (müssen jedoch nicht!) die Grundlagen für dissoziales Verhalten in der späteren Biographie gelegt werden. Ist durch die personale Nähe im ersten Lebensjahr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen aufgebaut, folgen bald die ersten Schritte in die Unabhängigkeit.
Kleinkindalter: Fairness und Eigentumskonzept
Während die zweijährigen Kinder alles haben wollen – koste es, was es wolle – haben die Drei- bis Vierjährigen schon eine andere Einstellung. Diese Altersstufe ist von einem spezifischen Egozentrismus geprägt – nach dem Motto: “Ich will es haben! Bekomme ich das nicht, dann ist das unfair und gemein!”
Drei- bis Vierjährige entwickeln eine ganz eigentümliche Auffassung von Fairness. Sie wollen haben, wonach ihnen der Sinn steht. Und enthält man ihnen das vor, so ist das aus ihrer Sicht unfair! Aus dieser Auffassung leitet sich auch ihr Umgang mit dem Stehlen und dem Lügen ab. Sie haben in diesem Alter einen eigenartigen Umgang mit dem Eigentumsbegriff, den der amerikanische Erziehungsberater Thomas Lickona so auf den Begriff gebracht hat: “Was deins ist, ist auch meins!”
Deshalb ist der Begriff des Stehlens, des “Klauens” in dieser Zeit wenig passend. Dinge, Gegenstände an sich zu nehmen, auch wenn sie einem nicht gehören, ist durchaus normal. Kinder in dieser Altersstufe zu begleiten, heißt, die genommenen Gegenstände zurückzubringen, dafür zu sorgen, dass das Unrecht rückgängig gemacht wird.
Moralische Entwicklung im Vorschulalter
Darüber hinaus kann man Fünf- bis Sechsjährige sehr wohl mit einer höheren moralischen Stufe konfrontieren: “Ich denke, du möchtest auch nicht, dass man dir etwas wegnimmt!” Bedenken Sie allerdings: Auch wenn Sie Ihrem Kind das sagen und das Kind Ihnen zuhört, bedeutet es noch lange nicht, dass das Kind am nächsten Tag danach handelt!
Moralische Vorstellungen entwickeln Kinder vom vierten, fünften Lebensjahr an, indem vor allem die Eltern dieses vorleben, den Kindern ein positives Modell zeigen, an dem sie sich orientieren, an dem sie sich auch reiben können. Eltern stellen in dieser Zeit unbedingte Autoritäten dar. Ihr Vorbildverhalten ist prägend. Für Eltern heißt dies: Es ist ausgesprochen wichtig, Kinder zu freundlichem, zu sozialem Verhalten zu ermutigen, dies zu unterstützen.
Moralische Reifung zwischen sechs und elf Jahren
Wer Kinder zu Dankbarkeit und Sensibilität in den ersten Lebensjahren ermutigen will, tut gut daran, weniger auf die Kraft seiner Worte als auf die Überzeugungskraft seines Handelns zu vertrauen. Wenn Kinder bis zum Schulkinderalter erfahren, wie die Eltern ihnen ein positives Modell vorleben, werden sie sich in aller Regel später daran orientieren.
Dann entwickelt sich das Kind weiter. Die Zeit zwischen dem sechsten und elften Lebensjahr ist wichtig für die moralisch-soziale Entwicklung. Hier bildet sich – allmählich, widersprüchlich und nicht unbedingt kontinuierlich – Moral aus: Das Kind denkt über Moral nach, wägt moralisch ab, beginnt sich moralisch zu verhalten, erwirbt Empathie, mithin die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, anderen zu helfen, die Interessen von Mitmenschen zu achten und ein Gefühl von Schuld aufzubauen.
Der Einfluss von Eltern als Vorbilder
In der Grundschulzeit durchlaufen Kinder – Jungen wie Mädchen gleichermaßen – zwei Phasen moralischer Entwicklung, die aufeinander aufbauen. Wohlgemerkt, und darauf hat der amerikanische Sozialpsychologe Thomas Lickona ausdrücklich hingewiesen: Man kann moralisch reifen und schleppt trotzdem weiter unreifere moralische Entwicklungsstufen mit sich herum. Anders ausgedrückt: In einem vorpubertierenden Kind sind zugleich moralische Anteile eines Kindergartenkindes enthalten; es kann sich trotzig und aufsässig wie ein fünfjähriges Kind gebärden.
Zunächst gibt es jene vormoralische Phase, die zwischen dem sechsten und siebten Lebensjahr beginnt und sich bis in das achte, neunte Lebensjahr hineinzieht.
Konsequenzen und Grenzen im Grundschulalter
Diese Entwicklungsphase zeichnet sich durch einige typische Verhaltensweisen aus:
- Es beginnt ein Streben nach Unabhängigkeit, eine Abgrenzung von den Eltern. Das Kind nimmt sich als eigenständige Person wahr, das auf seine Rechte pocht. Bei Konsequenzen, die man bei Regelüberschreitungen ausspricht, reagiert es empfindlich und beleidigt: “Ihr seid unfair!”Kinder können in dieser Zeit gemein sein. Die Kinder beschimpfen sich wüst, überziehen sich mit Formulierungen, die weit unter der Gürtellinie liegen. Sie beurteilen sich gegenseitig unangemessen, verurteilen sich und zahlen, falls sie Unrecht erlitten haben, mit gleicher Münze zurück.
- Kinder können in dieser Zeit gemein sein. Die Kinder beschimpfen sich wüst, überziehen sich mit Formulierungen, die weit unter der Gürtellinie liegen. Sie beurteilen sich gegenseitig unangemessen, verurteilen sich und zahlen, falls sie Unrecht erlitten haben, mit gleicher Münze zurück.
Eltern haben Lebenserfahrungen, die Halt und Orientierung geben
Kinder in ihrem Bestreben nach Unabhängigkeit zu begleiten, setzt viel Verständnis voraus. Das fällt Eltern nicht immer leicht, begegnen ihnen die Heranwachsenden zwischen dem siebten und zehnten Lebensjahr doch allzu häufig uneinsichtig, schroff: “Wie du mir, so ich dir!” Die Lust am Streit, der Auseinandersetzung, die Bereitschaft, alles und jedes auszuhandeln, können Kinder jedoch nur auf der Grundlage einer Eltern-Kind-Beziehung ausleben, die Zumutungen und Belastungen jeder Art aushält. Das Verfolgen eines eigenen Standpunktes, der Kampf um den eigenen Vorteil weist darauf hin, dass das Kind ein neues, anderes Verständnis von Moral anpeilt: fair zu sein, wenn man selber fair behandelt wird.
- Zuallererst müssen Sie sich ihrer Erziehungsverantwortung bewusst sein. Sie sind nicht Freund ihrer Kinder, sie sind Partner. Und dazu gehört es, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass man sich nicht mit den Kindern auf den gleichen Rang stellen kann. Eltern sind Eltern, haben Lebenserfahrungen. Erfahrungsvorsprünge sind wichtig, weil sie dem Kind in Zeiten des Übergangs Halt und Orientierung versprechen.
- Kinder sind übermoralisch, sie haben bestimmte Konzepte von Regeln und Ritualen im Kopf. Nachgiebigkeit in dieser Zeit ist genauso fehl am Platz wie das Bestreben, sich in einen Machtkampf hineinziehen zu lassen – ganz nach dem Motto: “Mal sehen, wer hier Recht hat!” Regeln müssen abgesprochen werden. So fühlen Kinder sich ernst genommen, als Vertragspartner akzeptiert.
- Kinder reagieren in dieser Zeit ausgesprochen aggressiv, wenn ihnen nicht der gehörige Respekt entgegengebracht wird. Sie fühlen sich dann, als ob man sie wie “kleine Kinder” behandelt. Respekt – und dies können Kinder sehr wohl erwarten – hat etwas mit Gegenseitigkeit zu tun: “Ich respektiere dich! Doch ich erwarte auch Respekt!” oder: “Ich achte dich! Du achtest mich!”
Grenzüberschreitung als Suche nach dem moralischen Kompass
Ein Kind kann sich die Freiheit nehmen, Grenzen zu überschreiten, weil es nur so erfährt, was richtig und was falsch ist. Aber es muss auch lernen, die Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. Nur so wird es in der Lage sein, Normen und Werte aufzubauen und zu verinnerlichen. Anstatt sich mit dem Kind einen Machtkampf zu liefern, sich auf eine vormoralische Stufe zu stellen, ist es wichtig, das Kind mit einer moralisch reiferen Stufe zu konfrontieren.
Das Kind lernt, sich in andere Personen hineinzuversetzen: “Was denken andere wohl von mir, wenn ich das mache?” oder: “Andere erwarten jetzt von mir ein angemessenes Verhalten!” oder: “Anerkannt zu sein, bedeutet, auch an andere zu denken, ihre Gefühle zu respektieren!” Diese reifere Stufe bildet sich allmählich aus. Kindern ist mit einem Mal die soziale Anerkennung wichtig. Sie erwerben die Fähigkeit, die Perspektive anderer, ja einer ganzen Gruppe, einzunehmen. Sie denken darüber nach, was ein Verhalten, eine Handlung bei anderen bewirkt.
Grenzen respektvoll setzen – für ein authentisches Miteinander
Manchmal ist es erforderlich, Grenzen zu setzen und gleichzeitig dabei Respekt zu schaffen. Das kann in Familien oder Lebenshpasen, in denen intensive Entwicklungen stattfinden, komplette Verweigerungshaltungen, Beleidigungen und Türenknallen an der Tagesordnung stehen, eine echte Herausforderung darstellen. Solche Konflikte auf dem Weg, den moralischen Kompass zu definieren, sind bei Kindern keine Seltenheit. Statt zu tun, was gesagt wird, reagieren Kinder oft mit Wut, laufen davon oder greifen sogar zu unschönen Beschimpfungen. Das kann wahnsinnig belastend und anstrengend sein, sowohl für die begleitenden Eltern, als auch alle anderen.
In solchen Momenten klingen Sätze wie “Ich habe hier das Sagen” oder “Solange du in meinem Haushalt lebst…” in den Ohren nach, der Wunsch, hart durchgreifen ist groß, oder?
Diese Gedanken und das Handeln scheinen jedoch kaum etwas an der angespannten Situation zu ändern. Das Gefühl der Verärgerung und der Hilflosigkeit macht sich breit. Wie ist es am sinnvolsten, mit solchen Momenten besser umzugehen?
Wie setzt man respektvoll Grenzen?
In der Zoom-Expertenstunde am 15.10.“Grenzen respektvoll setzen -für ein authentisches Miteinander” nehmen wir uns genau diesen Herausforderungen an. Wir bieten Lösungsansätze und Methoden, um solche schwierigen Situationen zu meistern. Wir bringen Licht in den Dschungel der Streitigkeiten, geben Eltern symbolisch eine neue Taschenlampe an die Hand, mit der sie den Weg ausleuchten, den es zu beschreiten gilt. In gut eineinhalb Stunden öffnen wir den Raum, teilen unser Experten und Elternwissen und geben noch ein Buch von mir mit auf den Weg, was im Nachgang hilft, das Thema zu vertiefen.