Erziehungsratgeber sind im Trend und der Markt ist schier unüberschaubar. Viele Eltern denken vermutlich, wenn ich mein Kind perfekt erziehe, bekomme ich perfektes Kind. Ihre Erziehungsbücher sind Bestseller. Was kann ein Buch überhaupt leisten?
Ein großes Problem vieler Ratgeber besteht darin, daes sie wie Rezepte oder Gebrauchsanweisungen daherkommen. Aber so geht Erziehung nicht. Meine Bücher sind eher ein Kompass – gehen muss man alleine. Gegen den Perfektionismus in der Erziehung habe ich mich immer gewehrt. Ich sehe mich als Impulsgeber und Bestärker.
Frage: Ihr letztes Buch zusammen mit Pater Anselm Grün widmet sich der Spiritualität in der Familie. Was bedeutet für Sie Spiritualität in der Erziehung?
Antwort: Für mich selber bedeutet es Gelassenheit, und zuzulassen, nicht perfekt zu sein. Diese Unvollkommenheit ist für mich sehr wichtig. Spiritualität ist eine Haltung sich selbst und anderen gegenüber. Im Wort Haltung steckt das Wort »Halt« und das ist das Zentrale in der Erziehung und im Leben: sich Halt geben, Halt suchen, Halt bekommen. Zur Spiritualität gehören aber auch Achtsamkeit und Gelassenheit. Können Sie das etwas genauer an einem Beispiel erklären? ; Wenn eine Mutter alles perfekt machen will und sich deshalb ständig unterordnet und alles für ihr Kind gibt, dann das hat nichts mit Haltung zu tun, sondern mit Verschwinden. Haltung heißt aber auch, bei sich zu sein. Nur wenn es einem selbst gut geht, geht es Kindern gut. Deswegen sage ich solchen Mu?ttern: Sorge dich nicht ständig um die anderen, sorge auch für dich. Achtsamkeit heißt, ich achte mich so wie ich bin, ich spüre meine persönlichen Grenzen, ich höre auf meinen Körper. Wenn ich dies mache, bin ich ganz nah beim Kind und kann ihm auch Vorbild sein. Ich muss bei mir sein und zu mir kommen, das ist die Grundvoraussetzung für Spiritualität schlechthin. Wir müssen im Hier und Jetzt bleiben. Das können die Wenigsten, im Gegenteil: Wenn das Kind in Kindergarten kommt, schauen die Eltern schon auf die Schule. Und wenn das Kind in die Schule kommt, sind sie schon wieder weiter. Wer nicht in der Gegenwart lebt, der ist auch nicht bei seinem Kind.
Frage: Zu sich kommen, abschalten, ist im stressigen Familienalltag nicht so einfach. Kennen Sie einen Ausweg?
Antwort: Man kann zum Beispiel hin und wieder Zaubertage einführen. Das kann ein Rittertag sein, an dem die Kinder mit Fingern essen dürfen und sogar am Tisch rülpsen. Zaubertage sollte es auch für die Eltern geben. Vielleicht können die Kinder an einem Abend zur Oma gehen, damit das Ehepaar Zeit für sich hat. Solche Ausnahmetage durchbrechen den Alltag und haben viel mit Spiritualität zu tun.
Frage: Ist Spiritualität mit Glaube und Religiosität verbunden?
Antwort: Spiritualität hat mit Religiosität nichts zu tun, aber mit Glauben schon, Spiritualität ohne Glauben geht nicht. Kinder sind von Natur aus spirituelle Wesen, sie kommen sozusagen als Glaubende auf die Welt. Sie unterhalten sich mit Bäumen und Blättern und Ameisen. Kinder wünschen sich diese Allverbundenheit, und sie fu?hlen sich auch den Märchenhelden und –heldinnen verbunden.
Frage: Wie sollen die Eltern reagieren, wenn sie sehen, dass ein Kind mit dem Baum redet?
Antwort: Sie sollte sich nicht einmischen und dem Kind seine Fantasien und Träume lassen.
Frage: Gibt es typische Kinderfantasien und Träume?
Antwort: Durchaus. Das Reise-Motiv des Helden im Märchen ist ein zentrales und zugleich ein spirituelles Motiv. Alle Helden, die für Kinder interessant sind, ziehen aus. Sie wollen weg vom Erreichten. Das wunderbare Kinderlied Hänschen klein gehört dazu. Hänschen will weg, es spürt: ich kann nicht bleiben, es ist fade hier, ich will Abenteuer erleben. Ich will, dass etwas passiert, ich will bis an meine Grenzen gehen und diese überschreiten. Das ist ein zentrales Motiv, deshalb sind Märchen so interessant. Zugleich sehnen sich Kinder nach der heilen Welt, nach einem Happy End. Das Ende der Reise ist das Happy End. Man kann es auch spirituell ausdrücken: ich komme nach einer solchen Reise als jemand anderes zurück. Ich habe etwas erlebt, mir ist Wunderbares passiert. Für Kinder muss ein Märchen aber immer gut ausgehen, der Spannungsbogen muss am Ende der Geschichte geschlossen sein. Nur so kommt die Gefühlswelt der Kinder wieder in Ordnung. Wenn sie nicht um das gute Ende wüssten, würden sich Kinder sich auf solche Reisen einlassen.
Frage: Sollten Eltern also für Kinder auf ihrer Reise zur Erwachsenwerden eine Art sicherer Hafen sein?
Antwort: Kinder ziehen nur dann aus, wenn sie um den Hafen wissen, den sie anlaufen können. Ein sicherer Hafen bedeutet: Kinder müssen sich so angenommen wissen, wie sie sind. In allen ihren Emotionen, in allen ihren Fantasien und Fehlern. Nur wenn sich ein Kind geborgen und aufgehoben fühlt, dann kann es sich auch auf die Reise machen. Das Kind so annehmen wie es ist, in Trotzphasen ist das schwierig. Ja, aber es ist nicht unmöglich. Man muss nur nach beglückenden Momenten Ausschau halten: Nachts schläft das bockige Kind. Wenn man sich ans Bett stellt und das schlafende Kind anschaut, ist das ein beglückender Anblick, der auch Kraft gibt. Beglückende Momente sind Grundlage einer spirituellen Erziehung. In Ihrem Buch schreiben Sie, die spirituelle Verletzung sei die tiefste, die Eltern ihren Kinder zufügen können.
Frage: Was meinen Sie damit?
Antwort: Die meisten Eltern verletzen ihre Kinder nicht absichtlich, aber auch eine nicht absichtliche Verletzung ist eine Verletzung. Eine spirituelle Verletzung ist es, ein Kind nicht so anzunehmen, wie es ist. Es verletzt, wenn man ständig an einem Kind zerrt, wenn man das Tempo des Kindes, mit dem es durch die Weilt geht, verändern möchte. Das bedeutet, dass man gegen das Kind arbeitet. Die Fantasien eines Kindes als Spintisiererei abzutun, ist eine sehr tiefe Verletzung. Ich habe vorher vom Hafen geredet, Spirituell verletzte Kinder sind sich nicht sicher über diesen Hafen und ziehen übrigens ganz schwer aus. Sichere Kinder gehen leicht in die Weit hinaus. Das erkennt man schon im Kindergarten: Manche Kinder spielen Stunden lang vergnügt mit den anderen und sind fast verärgert, wenn die Mutter zu früh kommt. Es gibt aber auch Kinder, die nicht gerne in den Kindergarten gehen. Sie sind zögerlich, weil sie nicht sicher sind, was daheim los ist, ob es den Hafen noch gibt, wenn sie zurückkehren. Spirituell verletzte Kinder sind oft unsicher im Handeln und im Verhalten.
Frage: Fehlt diesen Kindern die Urgeborgenheit?
Antwort: Oft ja. Viele Kinder werden nur dann gemocht oder angenommen, wenn sie fröhlich und freundlich sind. Aber Kinder sind eben nicht nur fröhlich und freundlich. Kinder haben Angst, Wut, Zorn. Genau diese Emotionen, die ja zum Menschsein dazugehören, wollen sie auch gerne spüren. Sie wollen sich auch dann angenommen fu?hlen, wenn sie nicht so brav sind. Davon erzählt auch das Gleichnis vom Vater mit seinen zwei Söhnen in „Lukas 15“. Es ist einfach, ein Kind anzunehmen, wenn es funktioniert. Aber wenn der dreijährige Felix bei Lidl an Kasse tobt, wird es schon schwieriger. Erziehung läuft im Idealfall auch intuitiv ab. Viele Eltern übernehmen Rituale aus ihrer eigenen Kindheit.
Frage: Handeln sie damit automatisch richtig?
Antwort: Kinder brauchen Rituale, das ist das Allerwichtigste. Das Problem sind nicht die fehlenden Grenzen heutzutage. Die Entritualisierung ist ein viel größeres Problem. In wie vielen Familien wird noch gemeinsam gefrühstückt und zu Mittag gegessen? Spiritualität findet in Ritualen ihren Ausdruck. Das Gutenacht-Ritual halte ich für sehr wichtig; eine Geschichte, ein Lied, ein Gebet – hier findet die Beziehung statt zwischen Eltern und Kind dem dritten Verbündeten: Gott. Ein Segnungszeichen, wenn das Kind das Haus verlässt, ein Tischgebet, all das gibt Sicherheit. Beim Gute-Nacht-Ritual wirkt nicht nur das Gebet, sondern
auch die Berührung. Man kann auch das Stirn-Chakra mit einem öl einreiben; das ist ungeheuer kraftgebend. Solche Symbole schaffen Verbundenheit von Mensch zu Mensch. Ich bin überzeugt, dass sie helfen. In der Jugendzeit werden die Rituale meist über den Haufen geworfen.
Frage: Wie weit tragen Rituale wirklich?
Antwort: Wenn Kinder in die Pubertät kommen, reiben sie sich an elterlichen Ritualen. Das ist die Aufgabe der Pubertät. Pubertierende führen Rituale aber auf ihre Art und Weise fort. Vorglühen vor der Disco hat zwar keinen spirituellen Wert hat, aber es ist auch ein Ritual. Auch wenn die Teenager nicht mehr mitmachen, sollten wir als Mutter und Vater überlegen, welches Ritual wir gerne weiterführen möchten. Wenn für mich der sonntägliche Kirchgang wichtig ist, aber mein Pubertierender nicht mehr mitkommt, gehe ich trotzdem. Ansonsten würde das Kind alle bisherigen Rituale als Machtausübung empfinden. Ich beobachte immer wieder Folgendes: Wenn Eltern ihre Rituale weiterleben, nehmen die Kinder nach der Sturm- und Drangphase diese
Rituale wieder auf.
Frage: Das bedeutet also auch, dass Rituale u?ber Generationen hinweg Bestand haben können?
Antwort: Ich arbeite viel mit jungen Eltern. Die meisten sagen: bestimmte Dinge, die unsere Eltern uns vorgelebt haben, machen wir heute mit unseren Kindern. Auch wenn sie es selbst schon fast vergessen haben, mit ihren Kindern beten sie wieder. Rituale aus ihrer Kindheit geben den Erwachsenen später wieder Halt; und diesen Halt geben sie an ihre Kinder weiter. Aus der Biographieforschung weiß man sehr gut, wie wegweisend Rituale sind. Ich höre von jungen Eltern sehr oft zwei Sätze: »Ich hätte nie gedacht, dass ich selbst einmal so etwas mache« und: »Ich bin dankbar, dass meine Eltern mir gegenüber so klar waren.«[download id=”1320″ template=”button”]