Ein zerstreutes Kind, so die landläufige Meinung, ist ein Kind, was nicht bei der Sache ist. Stimmt! Doch warum müssen Kinder bei jeder Sache sein, die von außen vorgegeben wird: Da ist der siebenjährige Malte, der im Schulunterricht aus dem Fenster schaut, weil auf dem Fensterbrett ein Zaunkönig hockt. Der ist doch viel wichtiger als die Buchstaben, die die bemühte Lehrerin ihm anbietet. Der Zaunkönig fliegt gleich weg, die Buchstaben aber bleiben.
Ist es Chaos im Kinderzimmer oder ist es “Streu Ordnung”?
Da ist die vierjährige Anna, die in ihrem Zimmer hockt wie eine Prinzessin, eine umtriebige Mutter um sich herum, die sie zum Aufräumen bewegen will. Doch sieht Anna keinen Anlass dazu, findet sie doch in ihrem Chaos alles wieder. Die Einzige, die durchdreht, ist ihre Mutter. Kinder lieben die “Streu-Ordnung”, denn in der Zerstreuung sind strukturierende Momente enthalten, die nur die Kinder, aber nicht die Erwachsenen erblicken und zu deuten wissen.
Das zerstreute Professor-Kind erforscht alles und lange
Und da ist dann noch der knapp sechsjährige Benjamin, der in den Kindergarten muss, aber “der aus dem Anziehen seiner Schuhe”, so seine Mutter, “ein Projekt macht.” Der untersuche jeden Morgen seine Schuhe, die Schnüre, die Lasche, “einfach alles!” Sie würde durchdrehen, Benjamin säße da wie “ein kleiner Wissenschaftler”, durchdenke alles, käme vom “Hundertsten ins Tausendste”, der könne sich mit allem beschäftigen, würde allen Dingen auf den Grund gehen. Albert Einstein hat einmal von “der heiligen Neugier des Forschens” gesprochen, die in Kindergarten und Schule, aber nicht nur da, wieder angesagt ist. Kinder wollen hinter die Dinge schauen, sie begreifen, sie erfassen – und das so lange, bis sie Zusammenhänge begriffen haben. Mag das aus der Sicht von Erwachsenen noch so zusammenhanglos, noch so zerstreut daherkommen, für Kinder macht das Sinn, macht Zusammenhänge erfahrbar.
Frühförderung gegen zerstreute Kreativität
Lernen – immer früher, immer intensiver, immer mehr. Das ist ein Gebot der Stunde! In Kindergärten, die Englisch für Dreijährige, Chinesisch für Vierjährige anbieten, da geht der Daumen nach oben. In jenen, in denen “nur” gespielt, “nur” getobt wird, da senkt er sich unbarmherzig nach unten. Frühförderung ist angesagt. Sie fängt bei manchen Eltern schon in der Schwangerschaft an. Und der Erfolgsdruck beginnt schon mit der Geburt. Besorgte Mütter und Väter vergleichen ihre Kinder mit anderen, fragen sich besorgt, ob sich ein Kind “plangemäß” entwickelt, achten darauf, was ein Kind nicht kann, und übersehen dessen Stärken und Fähigkeiten. Der Gedanke, einem Kind für seine ganz eigenen Entwicklung Zeit zu lassen, ihm Raum zu geben, scheint eher ein “No-Go” zu sein, ein Blick in ein vermintes Gelände. Man will sich ja später nichts nachsagen lassen. Statt Kinder zu begleiten, statt Kinder entwicklungsangemessen zu fördern, wird die Überforderung zur Regel.
Ganzheitliches und lebenslanges Lernen
Da spukt die alte Redensart in den elterlichen Gehirnen herum: “Was Hänschen nicht lerne, das würde Hans nimmermehr kapieren.” Welch Irrtum! Lernen ist ein lebenslanger Prozess, man lernt sein ganzes Leben lang, wenn auch nicht mehr ganz so schnell. Aber möglichst schnell und ganz viel – das scheint heute die Regel zu sein! So läuft die Bildungsmaschinerie schon früh auf Hochtouren, wobei das mit der Bildung so nicht stimmt. Es geht nicht um eine ganzheitliche Entwicklung, vielmehr um eine staubtrockene Vermittlung von Fakten, mag diese noch so sehr an dem kindlichen Auffassungsvermögen orientiert sein. Bei der Bildung steht die Effektivität im Mittelpunkt. Sie bewegt sich nicht auf der Überholspur, sie hat mit der “Entdeckung der Langsamkeit” zu tun. Kinder lieben Umwege, weil sie die Ortskenntnis erweitern, weil sie Einblicke zulassen, die man ansonsten nicht gewonnen hätte. Wege entstehen beim Gehen, und auch der Weg zum Nordpol fängt mit dem ersten Schritt an. Der so gern zitierte Satz, dass der Weg das Ziel ist, wird dann zu einem Problem, wenn der Erfolg darin besteht, als erster und schnellster am Ziel zu sein und nicht einen mühsamen, gleichwohl lehrreichen Pfad beschritten zu haben. Wenn die Definition von Erfolg nicht mit neuen Inhalten gefüllt wird, mit Inhalten, die sich an Entwicklungsbesonderheiten der Kinder orientieren und nicht rational-ökonomischer Effektivität, dann bleibt jedes Nachdenken über veränderte Möglichkeiten von Bildung nur nutzlose Gedankenspielerei.