In einem afrikanischen Sprichwort heißt es: Man schaut dem Gras beim Wachsen zu. Wer am Halm zieht, damit es schneller wächst, der zieht ihn mitsamt seiner Wurzel aus der Erde. Der Halm welkt, er verdorrt. Erziehung stellt sich als Begleitung der Kinder ins Leben dar, sie ist keine gezielte Vorbereitung auf das Leben.
Erziehung bedeutet, Kindern den Raum und die Zeit zu geben zu wachsen. Entschleunigung ist das Gebot der Stunde – nicht Beschleunigung. “Eine entschleunigte Gesellschaft”, so der Pädagoge Fritz Reheis in seinem Buch über “Die Kreativität der Langsamkeit”, “ist eine Gesellschaft, in der nicht das Haben von Sachen, sondern das Sein der Menschen im Mittelpunkt stehen wird.Alles wird sich um ihr Wohlbefinden, um die Entfaltung und Erfüllung ihrer Möglichkeiten drehen. Und das ist der Kern menschlichen Glücks. Die entschleunigte Gesellschaft wird eine Gesellschaft der Muße und der Faulheit sein, verstanden als ‘kluge Lust’.” Ein ganz und gar anarchistischer Satz, für manche Eltern eine Herausforderung, die man nicht aushalten kann – Muße und Faulheit als “kluge Lust”.
Kinder im Zeitstress
Wer Kinder in den Mittelpunkt seiner Erziehungshaltung stellt, tritt in Kontakt zu ihnen, hört ihnen zu, versucht, sich in sie hineinzuversetzen, weiß nicht alles und sofort besser, kann in den Kindern auch einen meist geduldigen Lehrer erblicken. Ja, die Kinder sind Lehrmeister.
Unterhält man sich mit Kindern, dann wird Eltern, wird den Erwachsenen Respekt und Achtung entgegengebracht. Aber es werden fraglich auch kritische Töne laut. Sie fühlten sich ständig beobachtet und bewertet, so lautet ein Vorwurf. Ein anderer macht auf den Zeitstress aufmerksam, dem Kinder in einem durchorganisierten und verplanten Alltag unterworfen sind.
Kinder artikulieren das nicht, weil sie es nicht können oder wollen. Aber Kinder zeigen durch ihr Handeln, dass ihnen manches nicht passt. Aus der Perspektive der Erwachsenen sind solch störende Hinweise dann “Unarten”, die es zu unterbinden gilt. Dabei ist es für den Erwachsenen viel bedeutsamer, die Botschaften hinter den “Unarten” zu erkennen. Um diesen Begriff nochmals kurz zu beleuchten: Viele Eltern wollen das eigenständige, mutige, neugierige, unangepasste sind, aber zu viel Autonomie, zu viel Mut, gar Übermut, zu viel forschendes Entdecken, zu viel “Gegen-den-Strich-Bürsten”, das will man dann doch nicht.
Es existieren “Unarten”, die Eltern häufig verzweifeln lassen: Da ist die Zerstreuung, da ist die Langeweile, da gibt es den Rückzug, das Bedürfnis, nur für sich zu sein.
Kinder sind eigenständig, sind widerständig. Sie eignen sich, wie es der Soziologe Rainer Zoll einmal für die Erwachsenen formuliert hat, ihre Zeit auf ihre Art und Weise an. Sie lassen sich nicht so ohne weiteres beschleunigen. Entschleunigen ist das Gebot der Stunde. Um das an den Begriffen der Zerstreuung und Langeweile zu veranschaulichen.
Langeweile – woher kommt das eigentlich?
Vor über 200 Jahren galt Langeweile als wichtig und notwendig. Nun ist sie wichtiger und notwendiger, aber verkannter und abgewerteter denn je. Sich aus den Vorgaben auszuklinken, der organisierten und vorgeplanten Freizeit die kalte Schulter zu zeigen, Zeit für eigene Ideen zu entwickeln, auf dem Bett zu liegen, die Hausaufgaben genauso zu ignorieren wie das pädagogisch wertvolle Spiel, das achtlos in der Ecke liegt, weil man hier nur das spielen kann, was vorgeplant und vorbestimmt ist.
Langeweile als Hilferuf der Kinder
Wenn Kinder ständig formulieren, ihnen “sei so langweilig”, “einfach nur noch fad”, dass sie keine eigenen Ideen entwickeln, kann das in zwei Richtungen deuten: einerseits eine verdeckte Botschaft an die Eltern, sich mehr mit ihnen zu beschäftigen, in ihre Welt, ihre Träume einzutauchen, “mitzuspinnen”, Logik und Rationalität beiseitezulassen, sich mit den Kindern auf einen gemeinsamen Weg zu machen. Kinder mögen Eltern, die nicht als Vater und Mutter “vernünftig” daherkommen, nur den geraden, den richtigen Weg zu beschreiten, die versteckten Oasen, die jenseits liegen, unbeachtet lassen. Umwege, und seien sie noch so verrückt, erweitern nicht allein die Ortskenntnis, Umwege dienen zugleich dazu, Persönlichkeitsanteile – eben die Phantasie – in sich zu entdecken, die verschüttet sind, die man beiseitegeschoben hat. Phantasie, so hat es der Neurologe Gerald Hüther ausgedrückt, ist das “Zusammenfügen von Erinnerungsspuren und Erfahrungen zur Kreation einer eigenen Gedankenwelt”. Das gilt für Kinder ebenso wie für Erwachsene.
Doch weist der stereotyp formulierte Satz, es wäre alles so langweilig, noch auf einen anderen Sachverhalt hin. Es fällt auf: Kinder, bei denen alles verplant ist, oder aber jene, die keine Alltagsstrukturen erfahren, die nicht wissen, woran sie sind, die sich alleingelassen fühlen, diesen Kindern ist es eben auch sehr schnell langweilig, weil sie keine Bindung, keine Beziehung haben. Hier stellt Langeweile einen Hilferuf dar. Langeweile ist eben nicht Langeweile, es kommt darauf an, in welchen Bezügen sie erlebt wird.
Langeweile ist Zeit für mich
Fühlt ein Kind sich in Beziehungen aufgehoben, dann ist Langeweile für die Persönlichkeitsentwicklung ausgesprochen wichtig. Sie stellt eine Zeit dar, die nur dem Kind gehört. Deshalb reagiert es so vehement, so barsch, wenn ihm vorgeworfen wird, es langweile sich wohl wieder. Solchen Satz deutet es als Eingriff in seinen Wunsch nach Autonomie, danach, die Eigenzeit so zu gestalten, wie man es selber möchte. Langeweile, das heißt, auf dem Bett zu liegen, an die Decke zu starren, das heißt, gedankenverloren im Sessel zu sitzen, vor sich hin zu träumen, das heißt, Zeit für eigene Ideen zu haben, diese zu vertiefen, Zeiten, in denen nichts, aber rein gar nichts ge- und verplant ist. Langeweile ist eine Quelle der Kraft. Aber wer zu dieser Quelle will, so heißt es in einem chinesischen Sprichwort, der muss gegen den Strom schwimmen.
Ich versuche immer den Satz “Mir ist so fad” nicht auf dem Appell-Ohr zu hören. Die Erfahrung zeigt, wenn ich dem Drang mich als Animateurin zu betätigen erfolgreich widerstehe, entwickelt sich bei den Kids eine unglaubliche Kreativität ;-))