Kinder zu ermutigen – das ist keine Technik, das stellt eine Kunst dar, die viel Fingerspitzengefühl erfordert und eine ständige Reflexion des eigenen erzieherischen Handelns. Der zentrale Grundsatz der Ermutigung lautet. Vertrauen Sie dem Kind! Nur so wird sein Selbstvertrauen gestärkt! Und dazu zählt: Das Kind lernt, auch eigene Unvollkommenheiten anzunehmen, sich Fehler einzugestehen, Niederlagen zu akzeptieren. Das gelingt aber nur dann, wenn es Hoffnung auf Veränderung hat.
Kinder ermutigen – Beispiel Schule
Thomas, elf Jahre, besucht die erste Klasse des Gymnasiums. Er steckt in der Vorpubertät und bringt seine Eltern, insbesondere seinen Vater, mit seinen schulischen Leistungen “auf die Palme”. Thomas hatte während der Grundschulzeit viel Spaß an der Schule, “doch urplötzlich”, so seine Eltern, “ließ sein schulisches Engagement nach!”
“Null Bock!”, meinte sein Vater erzürnt. “Und ich weiß, wohin das führt, wenn man kein Abitur hat!” Er macht eine Pause: “Und deshalb gibt es bei mir nur eines: Lernen! Lernen! Lernen!”
Das sah dann so aus: Der Vater strich seinem Sohn sämtliche Freizeitaktivitäten bis auf zwei Termine im Sportverein. “Ein bisschen Bewegung braucht er schon!” Stattdessen setzt sich der Vater mit Thomas zwei bis drei Stunden am Abend hin und übt mit ihm “dort, wo er schwach ist: Mathe, Englisch, Bio, Physik …!” Der Vater wundert sich: “Und Thomas macht mit, kann dann auch alles!” Er stockt: “Aber jede Arbeit verhaut er am Tag danach!” Deshalb lerne er noch mehr mit seinem Sohn. Neulich sei er so sauer gewesen. Da habe er ihm vier Tag Hausarrest verpasst.
Als ich Thomas mit der Aussage seines Vaters konfrontiere, antwortet er lächelnd, er könne das Gelernte schon, aber er wolle nicht. “Also, wenn ich dann in der Schule vor dem Heft und den Aufgaben sitze, dann will mir nichts einfallen!” Er schmunzelt: “Also, mir fällt natürlich was ein. Ich denke daran, wie meinem Vater die Kinnlade runterklappt, wenn der die schlechten Noten sieht!”
“Und das mit dem stundenlangen Lernen, nervt dich das nicht?” – “Nö, der bestraft sich doch selber! Der würde lieber fernsehen! Das kann er jetzt nicht!”
Ob er denn von seinem Vater nie etwas Positives gehört hätte, will ich wissen.
“Doch, das schon!”, erklärt Thomas. “Aber da war dann schon wieder eine kleine Spitze drin.” Wenn er mal mit einer besseren Note nach Hause gekommen sei, habe sein Vater nur gestöhnt: “Wenn das doch immer so wäre!” oder “Siehst du, es geht doch!”
Ermutigen oder Loben – was ist was
Kinder sind hellhörig. Man sollte sie nicht unterschätzen, wenn man mit oder zu ihnen redet. Angemessener als “Wenn das doch immer so wäre!”, könnte man – im Sinne der Ermutigung – formulieren: “Finde ich prima, wie du das gemacht hast!”
Ermutigung ist – so der Pädagoge Jürgen Frick – eine ungeheure Kraft, die nicht allein die Selbstachtung des Kindes erhöht, sondern den Glauben an sich stärkt und hilft, Frustrationen zu überwinden, Niederlagen anzunehmen, und so anspornt, einen neuen Versuch zu starten. Allerdings kann sich das Kind angenommen wissen, so wie es ist – und nicht, wie es Eltern oder andere gerne hätten. Doch – darauf haben Rudolf Dreikurs und seine Mitarbeiter hingewiesen – muss man Ermutigung vom Lob unterscheiden. Die Ermutigung
- hebt auf die Kompetenz des Kindes ab (z.B.: “Prima, dass du dem Jens Mathe erklären konntest!”);
- lenkt die Aufmerksamkeit auf die inneren Werte des Kindes (z.B.: “Finde ich toll, wie du deinem Bruder beigestanden hast!”);
- überträgt Verantwortung, ohne das Kind zu überfordern (z.B.: “Schön, dass du mir geholfen hast!”);
- weiß, dass Unvollkommenheit zur Entwicklung gehört und Kinder anspornt, ein eigenes Leistungsbewusstsein zu entwickeln.
Das Lob
- belohnt eher das Ergebnis, lenkt alles auf die Sache (z.B.: “Ich bin stolz auf dich!”);
- macht nicht selten abhängig von äußerlicher Ermunterung (z.B.: “Hab ich das nicht prima gemacht, was krieg ich dafür?”);
- kann den Leistungsdruck verstärken (z.B.: “Das ist prima, wie du das gemacht hast, aber beim letzten Mal hast du schöner gemalt. Versuch es noch einmal!”).
Vielleicht liest sich diese Unterscheidung zu pädagogisch korrekt. Und von einem oder dem anderen Lob, das mal spontan ausgesprochen wird, nehmen Kinder keinen Schaden: besser ein Lob als eine andauernde Entmutigung und Erniedrigung. Doch sind Kinder sehr genau: Sie spüren die Unterschiede, die im Lob und in der Ermutigung enthalten sind.
Ermutigung für Eltern
Doch nicht allein Kinder brauchen Ermutigung – das gilt gleichermaßen für die Eltern.
Kinder sind genaue Beobachter ihrer Eltern. Sie spüren deren vergebliche Versuche, fehlerfrei zu erziehen, alles im Griff zu haben. Nach meiner Beobachtung wollen Eltern ein Problem nicht nur lösen. Sie wollen es perfekt lösen. Manche streben den pädagogischen Oscar an und nehmen dabei fast jede Anstrengung in Kauf, suchen nach dem Rezept für ihr Problem und verwechseln dabei Kindererziehung mit Kochen.
Aber da sie solche Unvollkommenheit schlecht ertragen, suchen sie nach Sündenböcken für das alltägliche Scheitern – und die sind schnell und zahlreich zur Hand: die Politik, die Gesellschaft, die Schule, die Lehrer, der Kindergarten, die Erzieherinnen. Und können diese nicht als Sündenböcke herangezogen werden, weil sie den Heranwachsenden förderliche Rahmenbedingungen bieten, bleibt immer noch jemand übrig: das Kind, das den Eltern jeden Tag den Spiegel vorhält, in dem sie die eigenen Mängel erblicken. Und je perfekter die Eltern sein wollen, umso unerbittlicher hält ihnen das Kind den Spiegel vor. Eltern halten diese Konfrontation oft nicht aus, und so projizieren sie eigene Fehler auf die Kinder nach dem Motto: “Wenn du dich besser verhalten würdest, müsste ich dich nicht anschreien, bestrafen, reglementieren.”
Die perfekten Eltern
Statt nach einem nicht zu erreichenden Perfektionismus zu streben, käme es vielmehr auf den Mut zur Unvollkommenheit an, denn Unvollkommenheit ist menschlich. Unvollkommenheit macht unverwechselbar, zeigt Kindern, wie Eltern an sich arbeiten, sich entwickeln. Eltern sollten ihre Schwächen und Fehler akzeptieren, zumal andere Menschen sie gerade wegen dieser Eigenschaften mögen. Der schmerzhafte Abschied vom Perfektionismus bringt gleichzeitig die entlastende Einsicht, dass Erziehung kein planbarer Prozess ist.
Das Leben mit Kindern ist voll von Spontaneität, die Intuition erfordert. Da jedes Kind, jedes Familienleben einmalig ist, bietet jeder Tag etwas Neues, Überraschendes. Manchmal wirken pädagogische Überlegungen, ohne dass man weiß, warum. Ein anderes Mal, und in derselben Situation, kochen die Wogen hoch, obwohl alle Zutaten stimmten. Erziehung ist eine gestaltende Kraft, der eine Ordnung innewohnt. Aber nicht immer weiß man, wie diese Ordnung funktioniert, warum pädagogische Maßnahmen bei dem einen Kind Früchte tragen, beim anderen nicht! Diese Art Ordnung ist mithin nur das halbe Leben, die andere Hälfte ist das Chaos. Und so, wie man lernt, Ordnung zu akzeptieren, so kann man lernen, sich mit dem Chaos zu arrangieren. Das macht möglicherweise Angst, aber wer solche Unsicherheiten aushält, wer akzeptiert, dass Unvollkommenheit zum Leben und zur Erziehung gehört, der hat den Kopf frei, sich auf Neues einzulassen.
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